Marcus Stegmaier
6 Mai 2018.
Sinn des Lebens
„Erwartungen“
Oberflächlich betrachtet ist der Sinn des Lebens für den Mann und die Frau, einen Lebenspartner zu haben, ein gutes Einkommen, um Kinder zu bekommen und gut zu leben, um gemeinsam Spaß zu haben. Doch wenn es in einem oder mehreren Punkten nicht so läuft, wie erwartet, stellt sich die Frage nach einem tieferen Sinn.
Der Mensch sucht den Sinn entsprechend seiner Erwartungen. Läuft das eigene und das Leben der liebsten Mitmenschen, wie man es erwartet, mit Gesundheit ohne Krankheit, Frieden ohne Streit, Glück ohne Unglück, Wohlstand ohne materielle Not, Liebe ohne Hass, dann scheint das Leben sinnvoll zu sein. So ist der Sinn, den der Mensch seinem Leben gibt, also von der Bedingung abhängig, dass die Erwartungen erfüllt sind.
Manch einer sucht den Sinn in der Nähe zu Gott und beginnt, zu beten. Doch der Mensch ist es gewohnt, Gott wie einen Menschen zu betrachten, wie einen Übermächtigen, der einem die Erfüllung der Erwartungen im Alltag bringen soll. Und so wird auch die Beziehung zu Gott zu einer großen Enttäuschungoder zu vielen kleineren und subtilen Enttäuschungen.
Andere wenden sich der Spiritualität zu. Sie suchen in der Erleuchtung den ewigen Frieden und die Erlösung vonden Enttäuschungen des täglichen Lebens. Die Erwartungen an spirituelle Praktiken wie Yoga und Meditation sind hoch und ebenso tief ist der Fall, der eintritt, sobald man merkt, dass sich im Alltag nichts Wesentliches geändert hat.
Auch die Zuflucht zur Psychologie ist üblich. Sie soll einem helfen, „dem eigenen Leben einen Sinn zu geben“, da man seine Arbeit für sinnlos hält, seine Beziehungen als leer und bedeutungslos erkennt und sich die Hoffnungen auf eine gesunde und zufriedene Zukunft im Alter meist nicht aufrecht erhalten lassen.
Der Mensch, jeunzufriedener er mit seinem Leben ist desto mehr fühlt er oder sie sich vom Tod bedroht. Die Zeit, die ihm oder ihr noch bleibt, soll doch glücklich und sinnvoll vergehen! Die Hilflosigkeit wird stärker, je älter man wird. Die Frage nach dem tieferen Sinn des Lebens wird immer dringlicher.
Wie kommt es, dass offensichtlich der oberflächliche Sinn, den der Mensch in seinem Leben sieht, niemals zu dauerhafter Zufriedenheit geführt hat?
Der Sinn einer Sache, einer Handlung oder einer Beziehung ist für den Menschen an einen Zweck gebunden. Die Frage ist immer „Was nützt es?“ Diese utilitaristische Haltung beinhaltet, oft versteckte, Erwartungen. Ein Gegenstand soll einen bestimmten Zweck erfüllen; wenn er kaputt geht, ist er sinnlos. Eine Handlung, zum Beispiel bei der Arbeit, dient einem bestimmten Zweck, sonst ist sie sinnlose Zeitverschwendung. Eine Beziehung hat den Zweck, etwas vom anderen zu bekommen, um glücklich zu sein, oder den anderen glücklich zu machen, um sich an seinem Glück zu erfreuen.
Alles im Leben wird benutzt, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Daher wird der Sinn mit dem Zweck verwechselt. Der wahre Sinn des Lebens muss jedoch vollkommen unabhängig von jedem Zweck sein, sonst wäre der Sinn des Lebens nur vorübergehend sinnvoll und nicht absolut sinnvoll, denn der Zweck ist manchmal erfüllt, und manchmal nicht.
Wenn der Zweck einer Handlung der Sinn der Handlung wäre, müsste der Zweck von der Handlung getrennt existieren. Doch die Erleuchteten erklären, dass das Leben ein einzelnes, kontinuierliches Fließen ist, in dem es keine Unterbrechungen gibt, die eine Handlung von ihrem Ergebnis trennen würde. Der Sinn einer Handlung muss also der Handlung selbst immanent sein und kann nicht von ihr getrennt sein. Eine Handlung ist allerdings nur eine illusionäre Reflexion der einzelnen Bewegung des Lebens als Licht und Ton, wie die Erleuchteten verkünden und Dr. Shankar im Detail erklärt.
Was könnte nun der bedingungslose, zweckfreie Sinn des Lebens sein? Die einzelne Bewegung des Lebens ist der Sinn des Lebens, denn der Moment im Leben existiert bereits, bevor der Mensch im Moment erschien. Der Moment enthielt die Manifestation von Pflanzen und Tieren, bis der Mensch im Moment vom Leben manifestiert wurde. Pflanzen und Tiere suchen keinen Sinn im Leben, weil sie keine Gedanken haben.
Nur der Mensch hat Gedanken einschließlich des Gedankens an Sinn und Sinnlosigkeit. Wenn das, was der Mensch für den Sinn des Lebens hält, also tatsächlich der Sinn des Lebens an sich wäre, hätte dieser Sinn davor noch nicht bestanden, als der Mensch noch nicht im Moment war. Der Sinn des Lebens muss aber schon vor dem Menschen bestanden haben, sonst wäre es nicht der absolute Sinn des Lebens, sondern vom Menschen abhängig, also relativ und nicht absolut.
Es ist essenziell zu verstehen, ob der Sinn, den der Mensch dem Leben im Alltag gibt, real oder illusionär ist. Was für den einen sinnvoll erscheint, ist für den andern sinnlos. Je größer die Sehnsucht nach Sinn, desto sinnloser erscheint der Alltag. So ist die Dualität des Verstandes: Ein Pendel zwischen den Gegensätzen. Doch in Wirklichkeit sind die Gegensätze nicht getrennt voneinander. Was einem sinnvoll erscheint, ist auch minimal sinnlos und, was scheinbar sinnlos ist, ist minimal sinnvoll. Sinnund Sinnlosigkeitsind ein Kontinuum vom Minimum zum Maximum und nicht voneinander getrennt, wie der Verstand glaubt.
Wenn man zum Beispiel etwas erschafft, was dann wieder zerstört wird, erscheint es einem sinnvoll, während es Bestand hat, und der Sinn wird in Frage gestellt, sobald es zerstört wird. Der Sinn, den der Mensch dem Leben also gibt, hat nur eine begrenzte Weile bestand. Wenn man dies versteht, versteht man auch, dass der Sinn des Lebens nicht im Vergänglichen gefunden werden kann. Dieser Sinn ist immer relativ und nicht absolut. Und dieser relative Sinn ist auch vergänglich und nicht beständig. Relativität und Vergänglichkeit sind die Defintion des Illusionären, nicht des Realen, das ewig, absolut und unwandelbar ist.
Wenn der Mensch versteht, dass seine alltäglichen, sinnvoll erscheinenden,Erwartungenan seine Mitmenschen, sich selbst, das Leben und an Gott illusionär sind, versteht er, dass die Erwartungen an einen Sinn im Leben ebenfalls illusionär ist. Die Frage nach dem Sinn stellt sich aus einem unzufriedenen Leben, nicht aus einem erfüllten Leben.
Ein Mensch stirbt auf die Weise, wie er lebt, denn das Sterben ist ein Prozess des LebensundLeben istein kontinuierliches Sterben. Der zufriedene Mensch lebt und stirbt mitErwartungen, die sich in der Vergangenheit erfüllt haben,und von denen er hofft, dass sie sich in der Zukunft erfüllen werden. Der unzufriedene Mensch lebt und stirbt mit Erwartungen und Angst, dass sie sich nicht erfüllen werden, sowie Trauer, dass sie sich nicht erfüllt haben. Beiden gemeinsam ist, dass der Sinn ihres Lebens von Erwartungen abhängig ist. Das ist ein oberflächliches Verständnis von Sinn, das immer wieder zu Zweifel, Angst und Enttäuschungen führt.
Der oder die Erleuchtetelebt und stirbt im gedankenfreien Hier und im zeitlosen Jetzt. Er oder sie versteht, dass der Moment im Leben ist, wie er ist, egal, was der Verstand ihm für einen Sinn zuweist. Für den erleuchteten Menschen ist der tiefere Sinn seines oder ihres Lebens, in jedem Moment dankbar und zufrieden zu sein, ohne Erwartungen zu haben, wie der Moment sein sollte. Das Verständnis, dass der Mensch den Moment im Leben nicht macht, sondern der Mensch und alles, was geschieht, so illusionär es auch ist, im Moment des Lebens enthalten ist, offenbart, dass das gedankenfreie Hier und das zeitlose Jetzt, ob mit oder ohne Menschen darin, der tiefere Sinn des Lebens war, ist und immer sein wird.